TikTok: Warum zensiert sich die LGBTQ+-Community selbst?
Mitglieder der LGBTQ+-Community nutzen verzerrte Hashtags für ihren queeren Content. Wieso?
Schaut man auf TikTok nach queeren Content, fällt schnell auf, dass die Hashtags nicht das sind, was man erwartet: Statt „queer“ heißt es dort „qu33r“, statt „homo“ findet sich dort „h0m0“ und statt „lesbian“ wird „le$bean“ genutzt. Ist das einfach ein Trend? Oder zensiert sich die LGBTQ+-Community auf TikTok selbst? Wenn ja, warum? Wir haben mal nachgefragt!
Reichweite scheint einzubrechen
Im Gespräch mit TikTokerin Leonie (frauloewenherz) kamen wir auf die eigenwilligen Hashtags zu sprechen. Denn auch in ihren Videos werden Begriffe, wie „homosexual“, „asexual“ und Co. quasi zensiert. „Wir merken immer wieder, dass Videos weniger gut laufen, wenn bestimmte Worte ausgeschrieben sind“, so Leonie. „Natürlich ist es mehr ein Gefühl, es ist ganz schwierig, da einen Finger drauf zu legen, weil der Algorithmus von TikTok sowieso unberechenbar ist.“
Der „unberechenbare“ Algorithmus von TikTok ist nicht zum ersten Mal in Bezug auf die LGBTQ+-Community ein Thema: Der Social-Media-Plattform wurde bereits 2020 vorgeworfen, queere Hashtags in mindestens acht Ländern zu sperren. Nach monatelanger Forschung konnten australische Forscher*innen herausfinden, dass queere Hashtags, wie „lesbian“ und Co. zwar in Ländern wie Russland verwendet werden konnten – auffindbar waren sie für die User*innen allerdings nicht und wurden schon gar nicht im Für-Dich-Feed angezeigt, der Startseite von TikTok.
Als was definiert TikTok queere Inhalte?
Nun ist es so, dass in Russland bspw. Homosexualität tatsächlich illegal ist. TikTok berief sich damals auf diese rechtliche Grundlage. Fair enough, doch hier in Deutschland ist Homosexualität so oder so nicht strafbar, die Ehe für Alle gibt’s nicht erst seit gestern. Warum also die gefühlte Reichweiteneinbuße? Leonie ist Mitglied einer großen Gruppe von queeren Creatorn auf TikTok, die ihre eigenen Theorien dazu aufgestellt haben: „Wir können es nur vermuten, es liegt aber wahrscheinlich daran, dass sich das an bestimmten Porno-Such-Kategorien orientiert.“
Auf Anfrage antwortete TikTok, man habe Hashtags, wie #lgbtq mit 61 Milliarde Aufrufen und #LoveisLove mit 8 Milliarden Aufrufen und würde die LGBTQ+-Community durch mehrere Aktionen unterstützen und bei TikTok willkommen heißen. Weiterhin würde der Algorithmus nur bei einigen Kategorien von Inhalten greifen und Reichweiten einschränken. Als Beispiel nennt uns TikTok:
- Spam
- Videos, deren Inhalte eine Überprüfung erforderlich machen
- Videos, deren Inhalte verstörend wirken können
- Videos, die Inhalte enthalten, die ein allgemeines Publikum schockieren könnten
TikTok verweist uns auch auf die Community-Richtlinien. Demnach werden insbesondere sexuelle Inhalte, zum Beispiel „implizit oder eindeutig sexuelle Handlungen“, gesperrt. „Wenn wir ausgeschriebene Wörter [in unseren Videos] haben, werden die wegen der Community-Richtlinien geblockt“, ist dazu die klare Feststellung von Leonie. Möglich also, dass TikTok Aussagen und Texte in Videos, in denen „sexuell“ bzw. „sexual“ vorkommt, erst einmal als Verstoß wertet.
Wie sich die Community neue Worte erobert
Ein anderes Problem macht Leonie im Gespräch auch deutlich: Wenn sie oder andere User*innen queere und unzensierte Hashtags verwendet, landen sie unter Umständen bei Hatern. „Das habe ich ganz extrem mitbekommen, als ich ‚abortion‘ [zu Deutsch: Abtreibung] ausgeschrieben habe, da war ich auf einmal in der Anti-Abtreibungs-Bubble von TikTok.“ Zensierte Begriffe, wie „le$bian“ seien laut der TikTokerin auch ein „Instrument zum Selbstschutz“. Wer diese Hashtags verwendet, der kennt sich aus in der LGBTQ+-Bubble und landet bei Gleichgesinnten. Wer es nicht tut, der landet u.U. in „Hass-Bubbles“ und ist Menschen ausgesetzt, „die bestimmten Hashtags und Begriffen nur folgen, um darunter Hasskommentare zu hinterlassen“, so die TikTokerin. Also hat sich die Community neue Worte erobert – wie eben „le$bian“. „Davon gibt es inzwischen schon Merchandise“, so Leonie.
Das ist übrigens nicht das erste Mal, dass sich die LGBTQ+-Community einen Begriff erobern musste: „Queer“ war ursprünglich eine Beleidigung, bedeutete so etwas wie „seltsam“ und wurde als Schimpfwort gegen homosexuelle Menschen verwendet. In den 80er Jahren machte sich die LGBTQ+-Community das Wort zu eigen und trug es seither mit Stolz. Passiert so etwas ähnliches nun auf TikTok, wiederholt sich die Geschichte? „Hoffentlich nicht“, sagt Leonie und lacht.
Die zwei Seiten von TikTok
Einerseits scheint TikTok ein wunderbarer Ort für die LGBTQ+-Community zu sein, wie sich das Unternehmen selbst auf die Fahne schreibt. Auch Leonie weiß um die Vorzüge, denn dadurch, dass der Content auf TikTok „extrem personalisiert“ sei, finde man sehr viel schneller „die eigenen Leute“. Sie selbst habe erst durch TikTok einen Safe-Space in der LGBTQ+-Community gefunden – so wie sicherlich viele andere User*innen der App auch. „TikTok bringt Leute zusammen, so kenne ich das auch aus Erzählungen Anderer aus der Community.“
Doch auf der anderen Seite sieht sich die Community Hass-Bubbles ausgesetzt, wenn sie die „falschen“ Hashtags verwenden. Wie kann das sein? Leonie gibt hierbei allerdings TikTok keine Schuld. „Klar, der Algorithmus hat noch so seine Macken, aber ich halte TikTok zugute, dass sie auf Kritik, die sie bekommen, auch eingehen.“ Zwar würden manches Mal Videos aus der Community gesperrt, wenn sie aus irgendwelchen Gründen die Community Richtlinien verletzen, doch eine Beschwerde würde in solchen Fällen auch nicht ignoriert. Sobald ein Mensch – und eben keine künstliche Intelligenz – sich das Video dann anschaue, würde die Blockierung meistens auch aufgehoben, so die TikTokerin.
Kein System ist perfekt und TikTok an vielen Stellen auch einfach ein Spiegel unserer Gesellschaft. Aber die LGBTQ+-Community ist im Austausch mit den Menschen hinter dem Algorithmus und so scheint sie sich am Ende weniger zu zensieren, als sich vielmehr ihren eigenen Raum zu schaffen, in dem sie sicher und aufgehoben ist.